Was dir als feinfühliger Mensch helfen kann: das Toleranzfenster

Es gibt einen Raum in uns, in dem die Welt still wird. Ein Ort, an dem unser Inneres wie ein ruhender See liegt – unberührt, weit und klar. Dieser Raum ist unser Toleranzfenster, die heilige Zone, in der wir fühlen, denken und handeln können, ohne von den Stürmen des Lebens überrollt zu werden.

Doch was passiert, wenn der See durch äußere Winde oder innere Stürme aufgewühlt wird? Wenn wir uns entweder überflutet fühlen oder von der Lebendigkeit abgetrennt? Gerade für hochsensible Menschen, deren Nervensystem wie ein fein abgestimmtes Instrument reagiert, ist das Verstehen und Pflegen dieses inneren Fensters essenziell.

Die Landschaft des Toleranzfensters


Stell dir dein Toleranzfenster wie den klaren Pfad eines Winterberges vor:

👉 Innerhalb des Fensters bist du wie ein Wanderer, der den Gipfel erklimmt. Deine Schritte sind fest, die Aussicht klar.



Doch wehe, du gerätst in einen Sturm:

👉Hyperarousal gleicht einem heftigen Schneesturm, der dich von allen Seiten trifft. Dein Atem wird schneller, dein Herz rast, und die Flucht scheint der einzige Ausweg. Ganz konkret könnte es so aussehen:

  • Überwältigende Angst oder Panik

  • Reizbarkeit oder Wut

  • Rastlosigkeit und Schlaflosigkeit

  • Erhöhte Herzfrequenz und Atemfrequenz

  • Überempfindlichkeit gegenüber Reizen

  • Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren

👉Hypoarousal hingegen fühlt sich an wie eine dichte Nebeldecke, die den Berg verhüllt. Du kannst den Pfad nicht mehr erkennen, bleibst stehen und fühlst dich verloren. Es kann sein, dass du dies im Alltag auch so bemerkst:

  • Gefühl der Taubheit oder emotionalen Abkopplung

  • Energiemangel, Erschöpfung oder Antriebslosigkeit

  • Schwierigkeiten, klare Gedanken zu fassen

  • Gefühl, „eingefroren“ oder „paralysiert“ zu sein

  • Rückzug oder Apathie



Es ist wichtig zu betonen, dass das gelegentliche Erleben von Angst oder das Gefühl des „Eingefrorenseins“ normale Reaktionen auf bestimmte Lebenssituationen sind und nicht zwangsläufig auf eine Angststörung oder Depression hindeuten. Entscheidend sind hierbei die Häufigkeit, Intensität und Dauer dieser Empfindungen. Wenn solche Gefühle jedoch regelmäßig auftreten, sehr intensiv sind oder über längere Zeit anhalten, kann es sinnvoll sein, dies mit einem medizinischen Fachpersonal zu besprechen. Eine genaue Beschreibung deiner Erfahrungen kann deinem Hausarzt, Hausärztin oder einem therapeutischen Team helfen, deine aktuelle Lebenssituation besser zu verstehen und gegebenenfalls geeignete Unterstützung anzubieten


Ein schmaleres Fenster – eine tiefere Einladung

Hochsensible Menschen tragen oft ein schmaleres Toleranzfenster in sich. Ihre Sinne nehmen die Welt intensiver wahr, und selbst leichte Schwankungen können sie aus ihrer Balance bringen. Doch gerade hier liegt eine verborgene Gabe:

• Die Fähigkeit, den Moment intensiv zu fühlen,

• die Tiefe des Lebens wahrzunehmen,

• und in die Stille einzutauchen, die anderen verborgen bleibt

Das Ziel ist nicht, ein breiteres Fenster zu erzwingen, sondern die Fähigkeit zu kultivieren, mit Sanftheit und Präsenz immer wieder in den inneren Raum zurückzufinden – wie ein Reisender, der Schutz in einer Berghütte sucht, bevor er weitergeht.





Praktiken für ein weicheres Zurückfinden

1. Die Weisheit der Achtsamkeit

Setze dich hin wie ein Baum, der tief verwurzelt ist. Atme ein und spüre, wie deine Wurzeln die Erde berühren. Atme aus und lass den Sturm an dir vorüberziehen.

Achtsamkeitsübungen können genauso verschieden aussehen wie es Menschen auf der Welt gibt. Ich liebe die naturbasierte Ergotherapie dafür- denn es muss nicht immer das Stille sitzen auf dem Meditationskissen sein um mehr Achtsamkeit zu erleben


2. Erdung durch die Sinne

Nimm fünf Dinge wahr, die du sehen kannst. Vier, die du hören kannst. Drei, die du fühlen kannst. Zwei, die du riechen kannst. Eins, das du schmecken kannst.

Die Schulung der Sinne bringt uns raus aus den Gedanken hinein in die lebendige Welt. Ich biete dazu im ersten Quartal von 2025 einen Kurs an. Melde dich für mehr Infos gerne im Newsletter an.


3. Der Rhythmus deines Atems

Ein Atemzug, der wie die Schmelze des Schnees die Härte in dir löst:

• Atme ein auf vier Zählzeiten.

• Halte den Atem für sieben.

• Atme aus für acht.



4. Aktivierung der Lebendigkeit

Wenn der Nebel des Hypoarousal dich umhüllt, bewege dich sanft. Klopfe leicht auf deine Schultern, stampfe mit den Füßen oder schüttle deine Hände aus. Schaue dich langsam nach revhts und nach links um, lassen deinen Blick schweifen, schwinge wenn es die Situation zulässt, mit deinem Oberkörper hin und her. Klopfe auf dein Brustbein, wie Tarzan. Diese kleinen Bewegungen laden die Lebensenergie zurück in deinen Körper.



Die uralte Verbindung zur Stille

Unsere Vorfahren kannten diesen Raum. Sie wussten, dass die Antwort auf äußeren Sturm nicht in der Welt draußen liegt, sondern in der Stille innen. In Nächten der Dunkelheit setzten sie sich in die Einsamkeit – ein Ritual, das in der nordischen Tradition als útiseta bekannt ist: das Sitzen in der Dunkelheit, das Lauschen, das Annehmen.

Auch du kannst diesen alten Pfad betreten. Er fordert keine großen Taten, keine schnellen Lösungen. Nur das Vertrauen, dass die Stille dich führen wird. Der Winter ist ein schönes Übungsfeld dafür. Nutze ihn und seine dunklen Tage zum Batterieaufladen, zum Kennenlernen deines Toleranzfensters, bevor der Frühling uns mit seiner Quirligkeit ansteckt.

Die Einladung, das Toleranzfenster zu ehren

Beginne, dein Toleranzfenster zu spüren, wie du die Jahreszeiten spürst. Manchmal wird es enger, wie der Winter die Tage kürzer macht. Doch wenn du dich der Dunkelheit nicht verschließt, wirst du den Raum darin entdecken.

Erinnere dich: Es ist kein Fehler, wenn du Hyperarousal (Überaktivierung)- oder Hypoarousal (Unteraktivierung) erlebst. Es ist ein Ruf deines Körpers, dich selbst sanfter zu halten, dich tiefer zu spüren und den Raum in dir zu pflegen.




Abschließende Worte: Dein innerer Kompass

Du bist nicht hier, um ständig zu kämpfen oder dich zu verstecken. Du bist hier, um den Kosmos in dir zu spüren, um zu erleben, wie dein Nervensystem wie die Natur selbst lebt – in Wellen, Rhythmen und Zyklen.

Wenn du dich dem Toleranzfenster mit Hingabe und Neugier widmest, wird es zu deinem inneren Kompass, der dich immer wieder zurück zur Balance führt. Wie ein stiller See inmitten von Bergen wartet dieser Raum auf dich. Kehre immer wieder zurück, und die Welt wird sich mit dir bewegen.


Über die Autorin


Katharina Krause-Pysarczuk ist Ergotherapeutin und begleitet Menschen zu mehr Ruhe, Selbstfreundschaft und einem achtsamen Umgang mit Hochsensibilität.

Mit kreativen und achtsamen Methoden ermutigt sie feinfühlige Menschen, ihre Sensibilität als Stärke zu erkennen und dem Druck der Leistungsgesellschaft mit innerer Klarheit zu begegnen. Ihre Angebote laden dazu ein, Entspannung und Selbsterkenntnis als festen Bestandteil des Alltags zu verankern.